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Die Jugend feiern, das Alter zelebrieren,
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1000 Seiten Katalog - Virtuelles Shopping der 1970-90er

Es ist Spätsommer 1984 in einem Dorf an der Nordseeküste, als sich zwei Nachbarinnen zufällig beim Fleischer treffen. Eine der beiden fasst sich ein Herz.

„Also Frau Hansen, Sie sind ja wieder so schick angezogen.“ „Finden Sie? Wie nett, vielen Dank,“ freut sich Frau Hansen, auch über das anerkennende Nicken der Frauen, die ebenfalls an der Fleischtheke anstehen. Als Frau Hansen gerade den Sonntagsbraten bestellen will, bemerkt Frau Schmidt fast verzweifelt: „Vom Textilhaus Petersen sind die jedenfalls nicht. Das wüsste ich. Wo bekommen Sie nur diese hübschen Sachen immer her?“

„Aus Hamburg!“ antwortet Frau Hansen. Plötzliche Stille! Die neidischen Blicke der Frauen sprechen Bände: 'Die hat das gut. Die darf in Hamburg einkaufen.' Frau Hansen hebt das Kinn, sie dreht den Kopf, ganz langsam. Sie posiert wie ein Model und blickt an den Frauen herunter. Dann kann sie sich ihr Lachen nicht mehr verkneifen und ergänzt: „Otto Versand Hamburg.“ Alle lachen.

Günstige Ware mit Billig-Stigma

So oder so ähnlich haben sich in der Blütezeit der Katalogwelt in den 1970er bis 1990er Jahren deutschlandweit sicherlich viele Szenen abgespielt. Wenngleich Frau Hansen in diesem Fall Humor und Selbstbewusstsein beweist. Denn in vielen Teilen der einkaufendenden Bevölkerung, damals noch weitaus mehr Frauen als heute, war günstige Katalogware auch als minderwertig stigmatisiert. Ein Grund dafür, dass im Laufe der Entwicklung der Universalkataloge der Anteil von Markenware im Katalog stieg und auch Prominente als Modells gewonnen wurden.

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Zugang zur großen weiten Welt

Die Experten vom Otto Versand hatten sich was dabei gedacht, als sie in ihrer Werbung „Hamburg“ besonders betonten. Die etwa 1000 Seiten starken so genannten Universalkataloge von Otto oder auch Quelle oder Neckermann ersetzten, insbesondere bei den Frauen in ländlichen Regionen, das Shopping-Erlebnis. Die Frauen waren wie eh und je für den Einkauf in der Familie zuständig. Der Katalog bedeutete für sie Zugang zur großen, weiten Welt der Mode, Möbel, Miederwaren und mehr. In Zeiten noch weitaus geringerer Mobilität als heute waren Frauen weit weg von den vielfältigen Einkaufsmöglichkeiten der großen Städte. Zahlreiche damalige Briefträger oder Studenten, die sich bei der Post etwas dazu verdienten, wissen noch heute, wie es war – das Schleppen und Austragen der kiloschweren Versandhauskataloge...

Willkommene Anregung für Zieleinkäufe

Für die Damen in den Städten hatten die Universalkataloge, die in der Regel zweimal im Jahr erschienen, ebenfalls eine große Bedeutung. Frauen nutzten ihn, um sich über Entwicklungen in der Warenwelt, wie die neue Sommermode 1985 oder den Wohnmöbeltrend 1974, zu informieren und von den Abbildungen anregen zu lassen. Die Käufe selbst, häufig auch entsprechender Markenprodukte, erfolgten daraufhin gezielt im stationären Einzelhandel. Denn der Aufwand, Ware bei Nichtgefallen oder nicht passende Ware zurückzuschicken, hatte noch eine recht abschreckende Wirkung. Jeder, der früher stundenlang zwischen Kunden, die 50 Pfennig-Briefmarken kaufen oder Einschreiben mit Rückschein aufgeben wollten, in der Schlange vorm Postschalter stand, um ein Paket aufzugeben, weiß wovon die Rede ist.


Die Rolle des Katalogs in der Familie

Die Herren der Schöpfung interessierte der Universalkatalog in der Regel wenig. Einkauf von Haushaltswaren und Kleidung war rollengemäß nicht ihre Aufgabe. Allenfalls später als – teilweise auch in Sonderkatalogen – Sortimente im Bereich Heimwerken, Technik, Autozubehör, Musik- oder Kompaktanlagen stärker vertreten waren, stieg auch das Interesse der Ehemänner.

Bei Kindern und Jugendlichen dieser Zeit wird besonders in Erinnerung bleiben, dass ("der neue Katalog ist da!") sie ihn erst in die Finger bekamen, nachdem die Mutter den Katalog zu Ende studiert hatte. Bemerkenswert mit welchem Affenzahn sie, immer wieder die Fingerkuppen mit Speichel benetzend, alle rund 1000 Seiten „durchackerte“. Die Augen flogen nur so über die Seiten – mit höchster Konzentration. Seiten von weitergehendem Interesse wurden mit einem Eselsohr versehen, das über den Seitenrand hinausragte.

Kinder stöberten im Katalog nach Spielzeug. Die Herbstausgabe durften sie zerschneiden. Schließlich mussten die Weihnachtswünsche hinreichend illustriert und definiert werden, damit Christkind oder Weihnachtsmann auch nicht das Falsche unter den Weihnachtsbaum legten.

Pubertierende Jungs interessierten sich neben technischen oder den ersten HiFi-Produkten seltsamerweise auch für Sonnenbänke, Damen-Bademoden oder Damen-Unterwäsche. Ersatz für so genannte "Schlüssellochhefte"? Die jugendlichen Mädchen der damaligen Zeit hatten Damen-Bademoden und Dessous sicherlich auch im Blick, genau wie „Young Fashion“. Schließlich wollten viele, in der Disco oder am Strand, anerkennende Aufmerksamkeit von Freundinnen oder Jungs genießen.

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 „Eindrucksvoller Blick in unsere Lebenswelt der 1980er Jahre“

Dank Jan Carstens aus dem schleswig-holsteinischen Halstenbek nahe Hamburg lässt sich an dieser Stelle noch eine andere Perspektive auf das Thema Versandhandelskatalog einnehmen:

Jan Carstens, Jahrgang 1951, ist Sammler von Versandhandelskatalogen. Er kam durch seinen Beruf als Designer und Produktentwickler zum Versandhandelskatalog: „Früher, ohne Internet, war das Sichten von Katalogen eine gebräuchliche Methode, den Markt und die Mitbewerber kennen zu lernen.“

Heute kann er ca. 500 Kataloge sein Eigen nennen. Hauptsächlich hat er Kataloge der Universalversender wie OTTO, Quelle, Neckermann, aber auch Spezialisten wie Conrad (Elektronik), Widmaier (Spielzeug für Kindergärten), Universal Prints (Poster) und mehr in der Sammlung. Carstens bezeichnet sich selbst als Sammleranfänger: „Die Kataloge, die ich habe, befinden sich seit den 80er Jahren in meinem Besitz. Die haben sich bei mir so angesammelt - mir widerstrebte es einfach sie zu entsorgen. Ich bin bisher noch nicht dazu gekommen, mich intensiv damit zu beschäftigen. Derzeit habe ich sie noch nicht geordnet und katalogisiert.“

Jan Carstens kann sich vorstellen, dass seine Katalogsammlung für Produktdesigner, Historiker, Museen oder Requisiteure und Bühnenbilder von Interesse sein könnten. „Ich freue mich über jeden, der sich für Kataloge beziehungsweise für meine Sammlung begeistern kann.“

Für Interessenten ist er per Mail unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! erreichbar. Noch weiß Jan Carstens nicht genau, wie er seine Sammlung medial darbieten wird. Er weiß aber sehr wohl, welchen sozio-kulturellen Schatz er im Laufe der Jahre zu einem etwa 1 m³ großen Würfel gestapelt hat.

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Abbild der „normalen“ Gesellschaft

 „Einen besonderen Wert bekommen die Kataloge dadurch, dass sie für zukünftige Generationen nicht in öffentlichen Sammlungen archiviert wurden“, führt er aus.

„Druckerzeugnisse dieser Art hatten nur ein kurzes Leben. Auch heute ist es weltweit nicht üblich, Kataloge und Prospekte in öffentlichen Institutionen zu sammeln. Dabei sind gerade diese schnell vergänglichen Druckerzeugnisse ein recht genaues Spiegelbild des kulturellen Lebens in der jeweiligen Zeit. Kulturgeschichtlich interessierte Menschen finden hier, auch über die Mode hinaus, eine Vielzahl historischer Utensilien in Wort und Bild beschrieben.

Da nur gut verkaufbare, den Massengeschmack und -bedarf entsprechende Artikel in die Kataloge aufgenommen wurden zeichnen sie ein ziemlich genaues Abbild der ‚normalen‘ Gesellschaft. Aus den Universalkatalogen von Otto, Quelle, Neckermann und Co. könnten Ethnologen genauere Schlüsse über das Leben ziehen als aus unserer Literatur oder den Geschichtsbüchern.“

Schließlich ergänzt Jan Carstens: „Durch die bildhafte und beschriebene Darstellung nahezu aller Artikel des täglichen Lebens könnte ein Archäologe ein genaues Bild der Gesellschaft zeichnen. Weil alle Artikel mit einem Preis ausgezeichnet sind und das Nettoeikommen der Kunden bekannt ist, lässt sich recht genau bestimmen, welchen Wert die Dinge in der Gesellschaft hatten.“

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Die Gegenwart des Katalogs

Auf die Frage nach der Entwicklung des Katalogs bis heute erläutert Jan Carstens in Kürze: „Mit der erfolgreichen Umstellung der Versandhändler auf Online-Shops hat sich der Universalkatalog verabschiedet. Bei misslungener Umstellung hat sich gleich auch der Versandhändler wie zum Beispiel Quelle mit verabschiedet.

Viele bedeutende Online-Händler, unabhängig davon, ob sie zusätzlich stationär vertreten sind, arbeiten im Vertrieb nachwievor mit Katalogen: Tchibo, IKEA, Manufactum, Baby Walz und viele mehr. Saisonale Kataloge sind beispielsweise immer noch ein wichtiger Bestandteil der Vertriebsstrategie.

Sie verschaffen den Konsumenten den Impuls, sich mit saisonalen oder neuen Produkten zu beschäftigen und online zu kaufen. Das wird sich auch zukünftig nicht ändern – solange es Menschen gibt, die bedrucktes Papier in den Händen zu schätzen wissen.“

Veröffentlicht am 22. Januar 2022 von geb.1960-69.de

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